Die DVGW G 221 enthält Leitlinien für die Erstellung der obligatorischen Gefährdungsbeurteilung, die vor dem Betrieb bestehender oder neuer Infrastrukturen unter Verwendung von Wasserstoff durchgeführt werden muss.
Die neue Koalitionsregierung in Deutschland hat die nationale Wasserstoffstrategie im Rahmen des Ziels der CO2-Neutralität bis 2045 bekräftigt. Dies umfasst die Bereitstellung von 10 GW inländischer Elektrolyse-Leistung (grüner Wasserstoff) bis 2030, Netzkupplungen für den Wasserstoffimport sowie einen entsprechenden Ausbau der Transport- und Verteilnetze.
Dazu ist neben neuen Wasserstoffleitungen die Umwidmung eines erheblichen Teils des bestehenden deutschen Erdgasleitungsnetzes für den Wasserstofftransport erforderlich. So schätzt der FNB (Verband der Ferngasunternehmen), dass bis zu 90 % des künftigen Wasserstoffnetzes aus umfunktionierten Erdgasleitungen bestehen sollen. Das GET H2-Konsortium hat vorgeschlagen, bis 2030 ein erstes „Hydrogen Backbone“ mit 5.100 km neuen und umfunktionierten Pipelines zu etablieren. Dieser Vorschlag wurde bereits in den offiziellen Netzentwicklungsplan (NEP 2022-2032) der Bundesnetzagentur aufgenommen. Der deutsche Wasserstoffnetz soll schließlich erweitert und in einen gesamteuropäischen Hydrogen-Backbone (EHB) integriert werden, der bis 2040 auf etwa 40.000 km geschätzt wird.
Diese ehrgeizigen Pläne erfordern eine sorgfältige technische Bewertung sowie die Analyse und Minimierung der damit verbundenen Risiken. In Deutschland hat der DVGW die Entwicklung entsprechender technischer Regeln und Richtlinien zum Wasserstofftransport vorangetrieben, darunter neuere Veröffentlichungen mit der Bezeichnung „H2 Ready“, z.B. DVGW G 655, G 463, G 409. Die neueste Richtlinie DVGW G 221 (Leitfaden zur Anwendung des DVGW-Regelwerks auf die leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit wasserstoffhaltigen Gasen und Wasserstoff), herausgegeben im Dezember 2021, enthält Leitlinien für die Erstellung der obligatorischen Gefährdungsbeurteilung, die vom Eigentümer vor dem Betrieb bestehender oder neuer Infrastrukturen unter Verwendung von Wasserstoff durchgeführt werden muss. Anmerkung: Der Begriff „Gefährdungsbeurteilung“ wird 41 Mal erwähnt im neuen Standard!
Erster Schritt: Aktualisierung der Risikoanalyse des bestehenden Betriebs
Die Anforderung zur Bewertung betrieblicher Risiken ist etabliert und gesetzlich verankert (in Deutschland nach ArbSchG, BetrSichV, GefStoffV). Weniger bekannt oder zumindest in der Praxis weniger umgesetzt ist, dass die Risikoanalysen unter Berücksichtigung geänderter Bedingungen regelmäßig aktualisiert werden sollten, z.B. anhand geänderter Prozessmedien oder Betriebsparameter; umgebauter oder modifizierter Anlagensysteme/Komponenten; „Lessons Learned“ auf der Grundlage der Ursachenanalyse von Unfällen oder Beinaheunfällen, aktualisierter Risikoakzeptanzkriterien usw. (siehe TRBS 1111 §4.1 „Erstellung und Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung“). Es wird empfohlen, Risikostudien spätestens alle 5 Jahre zu aktualisieren, beispielsweise unter Verwendung der DHAZOP-Methodik, die sich auf die Änderungen seit der vorherigen Analyse konzentriert. DVGW G 221 geht in Bezug auf den Wasserstoffbetrieb davon aus, dass die vorhandene Gefährdungsanalyse aktuell ist. Erst danach ist gemäß § 10 „Die Gefährdungsbeurteilung(en) der betroffenen Gasinfrastruktur … zu überarbeiten und wasserstoffspezifisch anzupassen”. Neben einer aktuellen Gefährdungsanalyse sind weitere Dokumentationsvoraussetzungen im DVGW G 221 Anhang F und H angegeben.
Schlüsselthemen, die bei einer Wasserstoff-HAZOP zu berücksichtigen sind
Die HAZOP-Methodik ist allgemein bekannt und in verschiedenen Normen wie DIN EN 61882 „HAZOP-Verfahren“ und TRBS 1111 „Gefährdungsbeurteilung“ definiert. Die Leitsätze für die Bewertung neuer oder „umfunktionierter“ Wasserstoffprojekte sind ähnlich denen, die für Erdgasinfrastrukturprojekte verwendet werden (siehe Leitworttabelle). Dennoch muss sich das Team während der HAZOP über spezifische Probleme im Zusammenhang mit Wasserstoff im Klaren sein, wobei darauf hingewiesen wird, dass diese möglicherweise außerhalb der aktuellen Betriebserfahrung liegen. DVGW G 221, Abschnitt 10, hebt spezifische Themen hervor, darunter:
- zulässige, aber veränderte Gaszusammensetzungen nach dem DVGW-Arbeitsblatt G 260 wie wasserstoffhaltige Gase und/oder Wasserstoff
- veränderte physikalisch-chemische Eigenschaften und Wirkungen der Gase auf Personen, Umwelt, Leitungen, Baugruppen, Komponenten und Anlagen
- Wirksamkeit von ergänzten und/oder veränderten Schutzmaßnahmen, wie z.B. Sicherheits- und Überwachungseinrichtungen
- Bandbreite der variablen Gaszusammensetzungen, z.B. zeitliche und lokale Variation des Partialdruckes des Wasserstoffs im Gas
- Ausblasverhalten
- veränderte Brand-und Explosionsgefahr im Betrieb, bei der Instandhaltung, bei Leckagen und Betriebsstörungen
- Strömungsgeräusche und Schwingungsverhalten
- modifizierte feste Rückstände
- Funktion, Einstellung und Ansprechverhalten von Sicherheitseinrichtungen
Nach den PSC-Erfahrungen sollten die folgenden zusätzlichen Aspekte während der „Wasserstoff-HAZOP“ berücksichtigt werden:
- potenziell reduzierter Pipeline-MAOP für H2-Betrieb (z.B. gemäß ASME B31.12), sowie entsprechende Auswirkungen auf bestehende Überdruckabsicherung
- Rohrleitungszustand, z.B. Wandstärkenreduzierung, Anomalien, gemäß intelligenter Molchungen, KKS-Erhebungen usw.
- Notwendigkeit von Lebensdauerberechnungen unter Berücksichtigung von Lastdruckwechsel, Wasserstoffversprödung/Rissbildung/Bruchzähigkeit
- Materialverträglichkeit und Durchlässigkeit bestehender Materialien bei H2-Verwendung, insbesondere der „Material Mix” für bestehende Armaturen, Geräte, Dichtungen, Schmierstoffe. Berücksichtigung evtl. fehlender Dokumentation/Zertifizierung von „H2-Readiness“/alternativ Bestätigung durch „Betriebsbewährung” bzw. Bedarf an Materialproben zur Bestimmung chemischer Analyse, Bruchmechanik, Härte usw.
- verändertes Strömungsverhalten von Wasserstoff (insbesondere erhöhte Geschwindigkeit), Einfluss auf Steuerelemente (Steuerventile, Blenden) und Sicherheitseinrichtungen (PSVs, SSVs)
- Verbrennungseigenschaften von Wasserstoff
- stöchiometrische Konzentration
- Zündeigenschaften
- untere und obere Zündgrenzen (LFL und UFL)
- Detonationsgrenzen
- geänderte Gefahrenzonen, ATEX-Anforderungen (z.B. Methan – LFL/UFL: 4,2-16,6 Mol-% und ATEX-Klasse: IIA T1 im Vergleich zu Wasserstoff: LFL/UFL: 4-77 Mol-% und ATEX-Klasse: IIC T1)
- geänderte Brand-, Gasmelde- und Schutzanforderungen
- Folgen von H2-Verpuffungen, Deflagration-Detonation-Übergang (geringere Wärmestrahlung gegenüber höherer Druckwelle)
- positiver JT-Effekt (Vorwärmbedarf prüfen)
- Auswirkungen auf oder Einfluss von vor- und nachgelagerten Netzen bzw. angeschlossenen Kunden (kritische Empfindlichkeit gegenüber H2)
- höheres Risiko eines Cyberangriffs auf die H2-Infrastruktur mit erhöhten Folgen (Stichwort: GAU)
- Eignung vorhandener Ausblas- und Fackelsysteme (Höhe, Sperrbereich, Ex-Zone)
- besondere Kriterien in Bezug auf Gasspeichersysteme (Stichwort: Hydratbildung)
- eichpflichtige Messungen und Kalibrierung
Bemerkung: Andere Codes und Standards können als HAZOP-Checkliste verwendet werden, z.B. ISO/TR 15916; DGUV 203-092, ASME B31.12, EIGA 121_14, ANSI/AIAA G-095.
Sicherheitsmaßnahmen für die Wasserstoffanwendung
Bei der Erwägung geeigneter Sicherungs- und Schutzmaßnahmen für Wasserstoffsysteme können die für die Erdgassysteme typischen weiterhin gelten (mit erforderlichen Modifikationen). Gemäß DVGW G 221 §10 können jedoch wasserstoffspezifische Schutzmaßnahmen erforderlich sein, darunter:
- wasserstoffspezifische Schulungen des Personals und/oder der Dienstleister
- angepasste Betriebsanweisungen für wasserstoffhaltige Gase und/oder Wasserstoff z.B. bzgl. Begasung, Inbetriebnahme, technischer und innerer Dichtheitsprüfung, Feststellung Gasfreiheit, Außerbetriebnahme, Inertisierung/Spülung gasbeaufschlagter Teile und Rohrleitungen, Instandhaltung, Instandsetzung, Verhalten bei Störungen, Explosionsgefährdung, Vermeidung gefährlicher explosionsfähiger Atmosphäre, Vermeidung von Zündquellen für wasserstoffhaltige Gase und Umgang mit bzw. Eigenschaften von Wasserstoffflammen, Stilllegung und Notfallmaßnahmen
- wasserstoffspezifische Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung
- inhaltlich angepasste wiederkehrende Prüfungen und erforderliche Zyklen der Durchführung
- Überprüfung der Qualifikation der zur Prüfung beauftragten Personen
- wassersstoffspezifische Überwachungseinrichtungen, Gasspürgeräte und Instrumentierung (tragbar, fest installiert), die wasserstofftauglich sind
- Anpassung der Leistung, Kapazität bzw. Dynamik der Gasinfrastruktur an wasserstoffhaltige Gase oder Wasserstoff
- Prüfung und Anpassung der Einstellungen und des Ansprechverhaltens von Sicherheitseinrichtungen
- Einbau und Inbetriebnahme zusätzlicher Sicherheits- und Überwachungseinrichtungen
- Austausch oder Anpassung von Komponenten und Leitungsabschnitten bei Materialunverträglichkeiten
- Neubestimmung der Ex-Zonen und Anpassung des Explosionsschutzdokuments
- Einsatz von geruchsstarken wasserstofftauglichen Odoriermitteln
Bedarf an erfahrenem Personal
Wie oben erwähnt, ist ein wesentlicher Punkt, der in der Norm angesprochen wird, der mögliche Mangel an Erfahrung im Betrieb von Wasserstoffsystemen. DVGW G 221, Abschnitt 5.2 besagt:
„Der Betreiber stellt sicher, dass (die) beauftragte(n) Unternehmen, Dienstleister, Vertragsinstallationsunernehmen und sein eigenes Personal für die wasserstoffspezifischen Aufgaben geeignet und kompetent sind.” Weiterhin hat der Arbeitgeber „…sicherzustellen, dass die technischen Fachkräfte und Sachkundige in Sachen Wasserstoff fort-, weitergebildet bzw. unterwiesen werden.”
Sachthemen, die im Rahmen einer Weiterbildung empfehlenswert sind, sind im Anhang I des DVGW-Merkblattes G 221 gelistet.
Abschließend ist anzumerken, dass eine Umwidmung vom Erdgas- auf den Wasserstofftransport als „wesentliche Änderung“ im Sinne der Gashochdruckleitungsverordnung (GasHDrLtgV) gilt. Daher ist es nach deutschen Vorschriften erforderlich, die entsprechende „ gutachterliche Äußerung“ des unabhängigen Sachverständigen einzuholen und die Genehmigungsverfahren der zuständigen Behörde einzuhalten. Es wird empfohlen, den beauftragten Sachverständigen frühzeitig in die „Wasserstoff-Risikoanalyse” einzubeziehen (z.B. HAZOP-Teilnahme), um potenzielle Probleme rechtzeitig zu erkennen.
PSC hat unabhängige Chairman- und Scribe-Services für über 100 HAZID-, HAZOP- (einschließlich HAZOP-Revalidierung) und LOPA-Studien durchgeführt. PSC-Experten sind nach IChemE und dem Exida CFSE-Programm zertifiziert. Hier finden Sie Informationen zu einigen wasserstoffbezogenen Projekten, an denen wir mitgearbeitet haben.